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Norddeutscher Bund (1867 - 1871) | ||||||||||||
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Norddeutscher Bund (1867 - 1871)from the Wikipedia | Read original article |
Norddeutscher Bund 1867–1871 |
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Verfassung | Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867[1] | ||||
Amtssprache | Deutsch | ||||
Hauptstadt | Berlin | ||||
Bundespräsidium – 1867 bis 1871 |
König von Preußen Wilhelm I. |
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Regierungschef – 1867 bis 1871 |
Bundeskanzler Fürst Otto von Bismarck |
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Währung | keine Einheitswährung | ||||
Gründung – 18. August 1866 – 1. Juli 1867 |
Militärbündnis Bundesstaat |
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Zeitzone | keine einheitliche Zeitzone | ||||
Karte | |||||
Der Norddeutsche Bund wurde als der seinerzeit erste föderativ organisierte deutsche Staat zur geschichtlichen Vorstufe der mit der Reichsgründung verwirklichten deutschen Nationalstaatsbildung. Der ursprünglich 1866 als Militärbündnis unter preußischer Führung angelegte Bund der deutschen Staaten nördlich der Mainlinie wandelte sich mit der Verfassungsgebung am 1. Juli 1867 zum ersten deutschen Bundesstaat.
Die Verfassung des Norddeutschen Bundes entsprach weitestgehend bereits der des Kaiserreichs von 1871: einem vom Volk gewählten Reichstag stand ein Bundesrat gegenüber, der die Regierungen der Mitgliedsstaaten vertrat. Zur Verabschiedung von Gesetzen mussten beide zustimmen. Oberhaupt des Bundes war das „Präsidium“ des Bundesrats, der preußische König. Ausführendes Organ war der Bundeskanzler. Der konservative preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck war der erste und einzige Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes.
Der Reichstag des Norddeutschen Bundes bereitete mit seinen zahlreichen modernisierenden Gesetzen zu Wirtschaft, Handel, Infrastruktur und Rechtswesen (darunter das heutige Strafgesetzbuch) wesentlich die spätere deutsche Einheit vor. Einige der Gesetze wirkten bereits vor 1871 über den deutschen Zollverein in den süddeutschen Staaten. Allerdings war die parlamentarische Kontrolle des Militärhaushalts noch begrenzt, obgleich die Militärausgaben 95 Prozent des Gesamthaushalts ausmachten.
Die Hoffnung, bald die süddeutschen Staaten Baden, Bayern, Württemberg und Hessen-Darmstadt in den Bund aufnehmen zu können, erfüllten sich nicht. In jenen Ländern war der Widerstand gegen das protestantische Preußen bzw. gegen den Bund mit seiner liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik groß. Das zeigte sich bei der Wahl zum Zollparlament 1868; diese Zusammenarbeit von norddeutschen und süddeutschen Abgeordneten im Zollverein trug aber zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands bei.
1870 griff Frankreich nach diplomatischen Krisen Preußen an, auch im Versuch, eine weitergehende deutsche Vereinigung zu verhindern und deutsche Gebiete zu erobern. Doch die süddeutschen Staaten Baden, Bayern und Württemberg hatten mit Preußen geheime Verteidigungsbündnisse geschlossen, und auch wegen einer besseren Organisation konnten die deutschen Heere den Angriff rasch abwehren und den Krieg nach Frankreich hinein tragen. Im November 1870 unterzeichneten die süddeutschen Staaten Verträge, durch die sie dem Norddeutschen Bund beitraten. Nach Änderungen trat am 1. Januar 1871 die Verfassung des Kaiserreichs in Kraft.
Nach dem Deutschen Krieg von 1866 annektierte das Königreich Preußen sämtliche Gebiete seiner Kriegsgegner nördlich des Mains mit Ausnahme von Sachsen, Hessen-Darmstadt, Sachsen-Meiningen und Reuß älterer Linie. Auch die nordmainischen Gebiete Bayerns blieben im Großen und Ganzen unangetastet. Der unterlegene Kaiser von Österreich musste am 23. August im Friedensvertrag von Prag die Auflösung des seit 1815 bestehenden Deutschen Bundes anerkennen (Art. 4).
Bereits fünf Tage zuvor, am 18. August, hatten sich die Fürstentümer und Hansestädte nördlich des Mains unter Führung Preußens durch das August-Bündnis zum Norddeutschen Bund zusammengeschlossen, der zunächst 15 Mitglieder umfasste. Zu seinem Gebiet gehörten auch die preußischen Territorien südlich des Mains, die von Württemberg und Baden umschlossenen Hohenzollernschen Lande. Das Großherzogtum Hessen dagegen gehörte dem Bund nur mit seinem nördlichen Landesteil an; der Südteil war ein bundesfreies Gebiet.
Der Norddeutsche Bund war zunächst ein militärisches Schutz- und Trutzbündnis. Erst 1867 gaben ihm die Vertragsparteien eine Verfassung, die den Norddeutschen Bund zu einem Bundesstaat im Sinne eines föderalen Gesamtstaates machte.[2] Durch die ungewöhnliche Ausgestaltung zwischen Unitarismus und Föderalismus und die aus Rücksicht auf die Bündnispartner nur implizit niedergelegten Machtverhältnisse wurde der Verfassung, die von Otto von Bismarck selbst grundlegend entworfen worden war, auch teils ungenau attestiert, die Waage zwischen Einheitsstaat und Staatenbund zu halten.[3]
Das Kaisertum Österreich war seit dem Prager Frieden 1866 und der Auflösung des Deutschen Bundes nicht mehr politische Führungsmacht in Deutschland. Mit der Auflösung des Deutschen Bundes fehlte eine einheitliche Instanz, die ganz Deutschland, also auch die südlich des Mains gelegenen deutschen Länder einschließlich Österreichs, in irgendeiner Weise repräsentierte. Neben Österreich entwickelten auch die früheren Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes Liechtenstein, Luxemburg und das niederländische Limburg keine enge Verbindung zum preußisch dominierten Norddeutschen Bund.
Für Frankreich sei die Gründung des Norddeutschen Bundes „das größte Unglück seit vierhundert Jahren“ gewesen (Adolphe Thiers).
Geheimrat Maximilian Duncker hatte im Auftrag Bismarcks einen ersten Verfassungsentwurf ausgearbeitet. Nach mehreren Überarbeitungen durch Gesandte und Ministerialbeamte legte Bismarck selbst Hand an, und schließlich lag am 15. Dezember 1866 den Bevollmächtigten der Regierungen ein preußischer Entwurf vor.[4] Die Bevollmächtigten hatten zum Teil erhebliche Bedenken, mal wünschten sie sich mehr Föderalismus, mal einen stärkeren Einheitsstaat. Bismarck nahm 18 Änderungsanträge an, die die Grundstruktur nicht anrührten, und die Bevollmächtigten stimmten am 7. Februar 1867 zu. Dieser Entwurf war dann ein gemeinsames Verfassungsangebot der verbündeten Regierungen.[5]
Der konstituierende Reichstag wurde am 12. Februar 1867 gewählt und am 24. Februar in Berlin von König Wilhelm I. von Preußen eröffnet. Am 16. April 1867 nahm der Reichstag die Norddeutsche Bundesverfassung (NBV) an. Sie wurde am 24. Juni verkündet und trat am 1. Juli in Kraft. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes ist von einigen Bezeichnungen und Details abgesehen identisch mit der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871.
In den heftigen Beratungen des Reichstags war Bismarcks Entwurf durchaus beträchtlich abgeändert worden. Der Reichstag verstärkte seine eigene Position, und es gelang dem nationalliberalen Abgeordneten Rudolf von Bennigsen, die lex Bennigsen durchzubringen: Der Kanzler musste die Anordnungen des Bundespräsidiums (des Vorsitzenden des Bundesrates, das heißt des preußischen Königs) gegenzeichnen und übernahm dadurch die Verantwortung. Der Bundeskanzler wurde ein selbstständiges Bundesorgan.[6] Bismarck selbst wollte ursprünglich im Bundeskanzler nur einen Beamten sehen, nun war dieser die Schlüsselfigur im komplizierten Entscheidungsgefüge (Michael Stürmer). Dennoch gab es keine kollektive Regierung, das preußische Staatsministerium mit seiner Verwaltung erledigte diese Aufgabe für den Bund.[7]
Dem König von Preußen stand das Präsidium des Bundes zu, auf einen Titel wie „Kaiser“ verzichtete man. Ihm unterstellt war der Bundeskanzler, der die Exekutive des Bundes leitete. Die einzelnen Staaten des Bundes entsandten „Bevollmächtigte zum Bundesrat“, in dem Preußen dominierte und mit 17 von 43 Stimmen ein Vetorecht hatte.[8] Gemessen an den Einwohnerzahlen war Preußen damit trotzdem unterrepräsentiert, denn es trug rund vier Fünftel zur Bevölkerung der Bundes bei.[9] Der Bundesrat übte zusammen mit dem Reichstag, der aus allgemeinen und direkten Wahlen hervorging, das Gesetzgebungsrecht einschließlich der Haushaltsbewilligung aus.
Im Wahlrecht des Bundes war das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht verankert. Jeder Norddeutsche hatte in dem Wahlkreis, in dem er wohnte, eine Stimme für einen Kandidaten. Hatte kein Kandidat die absolute Mehrheit erhalten, so kam es zur Stichwahl. Jeder Wahlkreis entsandte einen Abgeordneten in den Norddeutschen Reichstag.
Der Norddeutsche Bund gilt weniger als eigenständige Epoche denn als Vorstufe zur deutschen Reichsgründung von 1871. Dazu trägt bei, dass der Bund nur etwa drei Jahre lang existierte. Außerdem gibt es vom Bund zum Reich eine hohe Kontinuität, sowohl was die Verfassung als auch die wichtigsten Politiker wie Bismarck angeht. Auch die Zeitgenossen waren der Ansicht,[10] dass die deutsche Frage mit der Gründung des Norddeutschen Bundes noch nicht abschließend geklärt war. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes sah die Aufnahme weiterer Staaten ausdrücklich vor.[11]
Es zeigte sich, dass eine Vereinigung Deutschlands kein Selbstläufer war. In Süddeutschland mussten wegen der Heeresreform nach preußischem Vorbild die Steuern erhöht werden. In Baden konnte der Großherzog nur mit Notverordnungsrecht das Bündnis mit dem Norden durch das Parlament bringen. 1870 stürzte die Patriotenpartei des katholischen Landvolks den liberalen Ministerpräsidenten. In Hessen-Darmstadt hoffte der Ministerpräsident noch im Juli 1870 auf eine preußische Niederlage.[12]
Bismarck initiierte im Mai-Juli 1867 eine Reform des Zollvereins, um die süddeutschen Staaten mehr an den Norddeutschen Bund zu binden. Aus dem Verein unabhängiger Staaten mit Veto-Recht wurde eine Wirtschaftsunion mit Mehrheitsbeschlüssen. Ein Veto als einzelner Staat hatte nur noch das große Preußen. Der Zollbundesrat war ein dem Bundesrat vergleichbares Organ mit Regierungsvertretern der Mitgliedsstaaten, daneben gab es ein Zollparlament. Es wurde nach dem Reichstagswahlrecht gewählt, wobei in der Realität der Reichstag um süddeutsche Abgeordnete erweitert wurde.[13]
Die Wahlen zum Zollparlament fanden 1868 in Süddeutschland statt. Dabei stellte sich heraus, dass die Preußengegner noch viele Wähler repräsentierten. Die Stimmen richteten sich gegen die Dominanz des protestantischen Preußens oder gegen liberale Freihandelspolitik, teilweise ging es auch um innere Konflikte der Staaten. In Württemberg waren alle 17 Abgeordnete antipreußisch, in Baden sechs gegenüber acht Kleindeutschen, in Bayern 27 gegenüber 21. Die meisten waren dem konservativen Lager zuzuordnen. Bismarck verstand, dass die Erweiterung des Norddeutschen Bundes um den Süden noch längere Zeit auf sich warten lassen könnte,[14] gleichwohl hatte der Süden keine Alternative zur wirtschaftlichen Integration, denn 95 Prozent seines Handels verlief mit dem Norden.[15]
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit bedeutete keine automatische politische Einheit. Die süddeutschen Staaten waren in diesem Punkt genau wie das Zweite Französische Kaiserreich in der Defensive, vor allem aber befand Napoleon III. sich innenpolitisch in einer schwierigen Lage, nachdem er 1869/1870 liberale Verfassungsänderungen hinnehmen musste. Daher suchte er nach außenpolitischen Erfolgen; nicht zuletzt wollte er für deutsche Vereinheitlichungsbestrebungen Gebietsabtretungen als Ausgleich. In Frankreich sprach man von der „Rache für Sadowa“ (d. h. die Schlacht von Königgrätz) und meinte damit die Enttäuschung, dass Preußen und Österreich 1866 so schnell Frieden geschlossen haben, dass Frankreich keine politischen Forderungen mehr stellen konnte. Das mögliche militärische Eingreifen Frankreichs veranlasste zunächst Bismarck zur Vorsicht, wenn auch der Erfolgszwang ihn selbst unter Druck setzte. Außerdem stand ihm bald wieder ein schwerer Konflikt um den Militärhaushalt vor Augen.[16]
Bismarck scheute allerdings davor zurück, die Nationalbewegung zu instrumentalisieren. Als im Februar 1870 die Nationalliberalen mit dem „Antrag Lasker“ forderten, das liberale Baden in den Bund aufzunehmen, lehnte Bismarck ab, da er den Liberalen den Erfolg nicht gönnte. Seine Strategie zielte auf die Monarchen und Regierungen im Süden ab, die von der bewahrenden Kraft eines kleindeutschen Nationalstaates überzeugt werden sollten. Eine Volksbewegung hingegen würde sich nicht nur gegen die Kleinstaaterei, sondern auch gegen den Militärstaat Preußens[17] richten.
Anfang 1870 weihte Bismarck König Wilhelm von Preußen in einen Kaiserplan ein. Demnach sollte Wilhelm zum Kaiser von Deutschland oder wenigstens des Norddeutschen Bundes ausgerufen werden. Das sei eine Stärkung für die Regierung und ihre Anhänger im Hinblick auf die kommenden Wahlen und Beratungen des Militäretats. Außerdem sei „Präsidium“ (des Bundesrats) im diplomatischen Verkehr ein eher unpraktischer Titel. Ein Gedanke war auch, dass den Süddeutschen ein Kaiser von Deutschland annehmbarer sein könnte als ein Preuße. Bismarck stieß mit dem Ansinnen aber auf Widerstand bei den übrigen Fürsten in Nord- und Süddeutschland, wodurch der Plan aufgegeben wurde.[18][19]
Die preußischen Landtagswahlen vom 13. Juli 1866 (die Urwahl fand noch vor Eintreffen der Siegesmeldung aus Königgrätz statt) kamen einem Erdrutsch gleich. Die Liberalen verloren etwa hundert Sitze, während die Konservativen ebenso viele hinzugewannen. Der preußische Liberalismus war im Wahlvolk also weniger stark verwurzelt als gedacht. Bismarck aber versuchte, so im Äußeren mit Österreich, so im Inneren mit den Liberalen zu einem Ausgleich zu kommen, um größeren Handlungsspielraum zu erlangen. Kurz nach dem Krieg kündigte er die sogenannte Indemnitätsvorlage an: Er ersuchte den Landtag, seine verfassungswidrigen Maßnahmen der Konfliktjahre nachträglich zu genehmigen.[20]
Bismarcks Haltung führte zu einer Spaltung sowohl der liberalen Fortschrittspartei als auch der Konservativen. Von der ersteren spaltete sich 1867 die Nationalliberale Partei ab, von den Konservativen die Freikonservative Partei. Beide wurden langfristig Bismarcks Stützen im Parlament. Die linkeren Liberalen hingegen trugen Bismarck die Konfliktzeit mit ihren Verfassungsbrüchen dauerhaft nach, und die rechteren Konservativen waren gegen Zugeständnisse an Liberale.
Die katholischen Abgeordneten waren im Reichstag des Norddeutschen Bundes eher schwach vertreten. Noch vor der Reichsgründung vereinten sie sich zwischen Juni und Dezember 1870 zur Zentrumspartei, die die Rechte der katholischen Minderheit und den Rechtsstaat überhaupt verteidigen wollte.
Die Sächsische Volkspartei, ein antipreußisches Bündnis von Radikaldemokraten und Sozialisten, konnte bereits im Februar 1867 zwei Abgeordnete in den (konstituierenden) Reichstag entsenden, darunter August Bebel. Neben seinem eher liberalen Kollegen war Bebel der erste Marxist in einem deutschen Parlament. Im August gewählten ordentlichen Reichstag stellte die SVP drei, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein zwei Abgeordnete. Die Trennung von bürgerlichen Radikaldemokraten und Sozialisten, eine der tiefsten Zäsuren der Parteiengeschichte,[21] führte 1869 zur Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Eisenach.
Damit gab es bereits im Reichstag des Norddeutschen Bundes die Parteien, die später das Kaiserreich prägen sollten, die beiden liberalen und die beiden konservativen, die Katholiken und die Sozialdemokraten.
Der Reichstag machte sich gemeinsam mit liberaleren preußischen Beamten an ein umfangreiches Reformprogramm. Hans-Ulrich Wehler konstatiert einen „Initiativenreichtum insbesondere der Nationalliberalen“, welcher „wie ein entschlossener Anlauf [wirkte], unverzüglich zu beweisen, wie modern, wie attraktiv für jeden Fortschrittsfreund der Norddeutsche Bund in kürzester Zeit ausgestaltet werden konnte – wie durchsetzungsfähig die Liberalen mit ihrer Politik gesellschaftlicher Modernisierung waren.“[22] Allerdings blieben Militär, Außenpolitik, Bürokratie und Hofgesellschaft autonom, außerhalb der Parlamentsherrschaft. Ansonsten konnte der Norddeutsche Reichstag „nach knapp drei Jahren eine erstaunliche Erfolgsbilanz nachweisen“, zu denen man noch die liberale Epoche im Kaiserreich bis 1877 hinzunehmen muss. 84 Nationalliberale, 30 Fortschrittsparteiler und 36 Freikonservative (von 297 Abgeordneten insgesamt) trieben die Entwicklung voran, aber viele wichtige Gesetze wurden auch fast einstimmig angenommen.[23]
Über achtzig Gesetze des Reichstags des Norddeutschen Bundes hoben zahlreiche Privilegien und Zwangsrechte auf, die Bürger erhielten mehr Möglichkeiten, ihr Leben freier zu gestalten. Der Rechtsstaat wurde gefestigt, Hemmnisse für Industrie und Handel beseitigt. „Noch einmal: Manche hochgespannte Reformerwartung wurde enttäuscht. Trotzdem zeigt ein Blick auf die zwanzig wichtigsten Gesetze, mit welcher Energie die Liberalen in Parlament und Verwaltung ihr großes Modernisierungsprojekt in verblüffend kurzer Zeit vorangetrieben haben.“[24] Zu den Neuerungen und Vereinheitlichungen, die meist im Kaiserreich fortgalten, gehören:[25]
Die Liberalen hatten ursprünglich im preußischen Verfassungskonflikt Einfluss auf den Militäraushalt nehmen wollen. Doch mussten sie mit dem Kompromiss leben, dass dieser Etat für mehrere Jahre (und nicht nur eines) zu entscheiden war. Die Ausgaben wurden vom Reichstag bis zum 31. Dezember 1871 festgelegt.[26] Da das Militär den Bund 95 Prozent aller seiner Bundesausgaben kostete, war die parlamentarische Kontrolle über den Staatshaushalt stark begrenzt.[27]
Im Jahr 1868 war in Spanien das Königshaus gestürzt worden, und schließlich wurde im Februar 1870 Leopold von Hohenzollern, ein Prinz aus dem süddeutschen Zweig der Hohenzollern, gefragt, ob er neuer König werden wolle. Nachdem der Prinz schon davon abgesehen hatte, ermunterte ihn Bismarck, doch noch zuzusagen. Als dies im Juli bekannt wurde, waren viele in Frankreich empört; der Außenminister zog im Parlament den Vergleich zum 16. Jahrhundert, als Frankreich im Süden und Osten vom Haus Habsburg umgeben war. Leopold zog seine Kandidatur zurück, und Frankreich hätte mit diesem diplomatischen Sieg zufrieden sein können. Der französische Kaiser Napoleon III. beging aber den Fehler, vom Oberhaupt der Hohenzollerndynastie, dem preußischen König Wilhelm I., zu verlangen, eine solche Kandidatur für die Zukunft auszuschließen. Wilhelm lehnte höflich ab. Dies gab Bismarck in einer verkürzenden Darstellung, worin das französische Ansinnen und Wilhelms Ablehnung schroffer erschienen, an die Presse. In Frankreich war die Öffentlichkeit aufgebracht, in Deutschland begeistert.[28] Am 19. Juli erklärte Frankreich Preußen den Krieg.
Es ist noch immer umstritten, welchen Anteil Bismarck an der Eskalation der diplomatischen Krise hatte. Clark schreibt, dass Bismarck die Ereignisse nicht kontrollierte und sich mit dem Rückzug der Kandidatur abgefunden hatte. Selbst nur Drohungen aus Paris waren für ihn von Vorteil, da sie Süddeutschland an den französischen Ehrgeiz erinnerten. Die französische Bereitschaft zum Krieg ging darauf zurück, dass Frankreich seine bevorrechtigte Position im System der europäischen Mächte nicht gefährdet sehen wollte. Wie auch in der Luxemburgkrise 1867 akzeptierte Bismarck Krieg als Möglichkeit, aber nur, wenn die Initiative von Frankreich ausging.[28] Heinrich August Winkler hingegen meint, Bismarck habe den Krieg gewollt und durch seine verschärfende Darstellung bewusst unvermeidlich gemacht. Man könne aber dennoch nicht von einer alleinigen Kriegsschuld Bismarcks sprechen, denn Napoleon wollte den Deutschen das Recht der nationalen Selbstbestimmung nicht zugestehen. „Innere Unzufriedenheit nach außen abzulenken war von jeher ein bevorzugtes Herrschaftsmittel des Bonapartismus gewesen.“[29]
Frankreich war isoliert, da die übrigen Mächte seinen Krieg nicht als gerechtfertigt ansahen. Die süddeutschen Staaten unterstützten entgegen Napoleons Erwartungen wegen der Schutz- und Trutzbündnisse mit Preußen den Norddeutschen Bund. Nach Abwehr des französischen Angriffs verlagerte sich das Kriegsgeschehen nach Frankreich. Bereits am 2. September, in der Schlacht von Sedan, wurde Napoleon gefangengenommen und sein Regime kapitulierte. Eine neue, republikanische Regierung führte den Krieg bis zum Februar weiter. Im Mai erfolgte der Frieden von Frankfurt. Frankreich musste eine hohe Entschädigungssumme zahlen und Elsaß-Lothringen abtreten.
Die süddeutschen Staaten Großherzogtum Baden, Königreich Bayern und Königreich Württemberg waren 1867 noch vollständig außerhalb des Norddeutschen Bundes, während Hessen-Darmstadt mit seiner nördlichen Provinz Oberhessen dazugehörte. Baden, Bayern und Württemberg schlossen im November 1870 Beitrittsverträge zum Norddeutschen Bundesstaat ab.[30] Der Abschluss dieser Novemberverträge ermöglichte den Beitritt der Großherzogtümer Baden und Hessen am 15. November 1870, des Königreichs Bayern am 23. November und des Königreichs Württemberg am 25. November 1870; zugleich vereinbarten die Verträge die Gründung eines „Deutschen Bundes“. Durch Reichstagsbeschluss vom 10. Dezember 1870 erhielt dieser Bund den Namen Deutsches Reich.[31]
Mit dem so genannten Kaiserbrief des bayerischen Königs Ludwigs II. wurde bereits wenige Tage darauf im Namen der deutschen Fürsten dem König von Preußen die Kaiserwürde angetragen, sodass nach dem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg am 18. Januar 1871 auf dieser Grundlage das Deutsche Reich und König Wilhelm I. in seiner Eigenschaft als erblicher Präsident des Bundes zum Deutschen Kaiser proklamiert werden konnten. Gemeinsam mit den Gliedstaaten des Norddeutschen Bundes bildeten alle Bundesstaaten einschließlich der drei Freien Städte das Deutsche Kaiserreich unter dem deutschen Kaiser als König von Preußen. Dabei übernahm das Reich im Wesentlichen die Bundesverfassung von 1867.[32] Somit entschied sich die deutsche Frage letztendlich unter Ausschluss Österreichs im Sinne der kleindeutschen Lösung.
Durch den Beitritt der Süddeutschen Staaten[33] zum Bund entstand im staats- und verfassungsrechtlichen Sinne kein neuer Staat: Der reformierte[30] Norddeutsche Bund existierte, nachdem seine Verfassung des Deutschen Bundes[34] – nicht zuletzt wegen zwei voneinander abweichender Fassungen – redigiert wurde,[35] durch Rechtskontinuität[36] unter der Bezeichnung „Deutsches Reich“ fort. Die Reichsgründung war folglich nichts anderes als der Eintritt der süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund.[37] Das Deutsche Reich war nach herrschender Auffassung[36] nicht Rechtsnachfolger des Norddeutschen Bundes, sondern ist mit diesem als Völkerrechtssubjekt identisch; letzteres wurde reorganisiert und umbenannt.[38] Auch das Preußische Oberverwaltungsgericht war von einer Weitergeltung der völkerrechtlichen Verträge des Norddeutschen Bundes für das Deutsche Reich ausgegangen, ohne dass dies hinsichtlich einer möglichen Sukzession infrage gestellt worden wäre.[39]
Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber gestand ein, dass die weitaus überwiegende Zahl der Staatsrechtler von der Identität ausgeht. Er selbst verwies jedoch darauf, dass Bismarck die Beitrittsanträge Badens und Hessens vom Oktober verzögernd behandelte. Der bayerische König nämlich hatte große Bedenken gegen einen bloßen Beitritt, sondern wünschte sich einen neuen Staat.[40]
In den Novemberverträgen steht ausdrücklich, so Huber, nichts von einem Beitritt, sondern von einer Neugründung. Gründer waren laut badisch-hessischem Vertrag vom 15. November der Norddeutsche Bund einerseits und Baden und Hessen andererseits. Der Name sollte „Deutscher Bund“ lauten; noch während der Gründung wurde dies in „Deutsches Reich“ geändert. Dem Vertrag war eine Verfassung für den Deutschen Bund beigefügt, die auf der Norddeutschen Bundesverfassung beruhte. Im Vertrag mit Bayern vom 23. November ist sogar nicht der Norddeutsche Bund Mitgründer, sondern die Staaten des Norddeutschen Bundes sind es. Sie schlössen mit Bayern „einen ewigen Bund“, dem Baden und Hessen schon beigetreten waren. Der Vertrag mit Württemberg vom 25. November dann sprach von einem Beitritt zu dieser (neuen) Verfassung.[41]
So handelte es sich Huber zufolge um einen neuen Bund und eine neue Verfassung, nicht nur dem Wortlaut nach, sondern auch nach der Absicht der Beteiligten. Selbst wenn man Preußen eine Täuschungsabsicht unterstelle, waren Bayern und Württemberg nicht bereit, dem Norddeutschen Bund beizutreten. Der Norddeutsche Bund wurde zwar nicht ausdrücklich aufgelöst, wohl aber ipso iure als Konsequenz der Gründung des neuen Bundes durch die norddeutschen und süddeutschen Staaten. Huber sieht das Deutsche Reich in Rechtsnachfolge des Norddeutschen Bundes, die ebenfalls ipso iure eingetreten sei. Als Folge dessen galten die Gesetze des Norddeutschen Bundes im Reich fort.[42]
Die Gründung des Norddeutschen Bundes in verkleinertem Rahmen gegenüber dem Deutschen Bund bewirkte, dass eine Reihe von Staaten endgültig aus dem Prozess der Bildung eines deutschen Nationalstaats herausfielen. Dies waren Österreich, Liechtenstein, Luxemburg und Niederländisch-Limburg.
Der Norddeutsche Bund umfasste 22 Staaten und ein Gebiet von 415.150 km² mit fast 30 Millionen Menschen. Die bedeutendste Exklave war Hohenzollern-Sigmaringen in Süddeutschland. Hessen-Darmstadt gehörte nur mit seinem nördlichen Teilgebiet dem Bund an.
Das Bundesgebiet bestand aus folgenden, Bundesstaaten genannten Gliedstaaten:
(Stand: 10. August 1867)
Staatsbezeichnung:
Vor der Reichsgründung: Norddeutscher Bund
Deutsches Reich: Deutsches Kaiserreich | Weimarer Republik | nationalsozialistisches Deutschland | alliierte Verwaltung
Während der deutschen Teilung (1949–1990): Bundesrepublik Deutschland | Deutsche Demokratische Republik
Seit 1990: Bundesrepublik Deutschland
Königreiche | ||
Großherzogtümer | Hessen (nur Provinz Oberhessen nördlich des Mains)• Mecklenburg-Schwerin • Mecklenburg-Strelitz • Oldenburg • Sachsen-Weimar-Eisenach |
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Herzogtümer | Anhalt• Braunschweig• Sachsen-Meiningen • Sachsen-Altenburg • Sachsen-Coburg und Gotha |
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Fürstentümer | Lippe• Reuß älterer Linie • Reuß jüngerer Linie • Schaumburg-Lippe • Schwarzburg-Rudolstadt • Schwarzburg-Sondershausen • Waldeck-Pyrmont |
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Freie Städte |